Ich gehöre zu der Generation, welche die Geburt und den Tod der LP miterlebt hat. OK, Tod ist übertrieben, sie liegt seit längerem im Koma, aber wenn nicht alles täuscht, wird sie die CD sogar überleben, allein schon wegen den Scrachern – um die ist es allerdings in letzter Zeit recht still geworden.
Gestern habe ich wieder mal meinen alten Thorens Plattenspieler angeworfen, aus meiner nach wie vor umfangreichen Sammlung eine Errol Garner Platte ausgewählt, vorsichtig aus dem Umschlag gezogen, dann von der Schutzhülle befreit, wobei es tunlichst jeden direkten Kontakt zwischen Fingerspitzen und Rillenteil der Platte zu vermeiden galt – ich habe mir tatsächlich eingebildet, das Vinyl leise aber lustvoll aufstöhnen zu hören bei dieser Striptease-Aktion (en effeuillant la Marguerite“ oder so ähnlich) nach mindestens 20 Jahren Darbens in der Versenkung – dann wurde sie, sorgfältig zwischen die Fingerspitzen der rechten und linken Hand positioniert, auf den Plattenteller gelegt (es gab ja tatsächlich auch Menschen, die LPs einhändig auflegten, d.h. zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt; ich möchte nicht wissen, wie die im Bett waren), dann wurde mit höchster Konzentration der Tonarm auf die schmale Anfangsrille aufgesetzt, um anschliessend zwanzig Minuten puren Hörgenuss zu erleben. 20 Minuten ist übrigens für meine Generation das ideale Attention Span Intervall, teilweise sicher konditioniert durch das häufige LP Hören, aber sicher auch als Teil einer anthropologischen Konstante, um es mal sehr geschwollen auszudrücken.
Dabei wurde mir natürlich wieder einmal sehr deutlich bewusst, was sich seit Einführung der CD und noch viel mehr des MP3 Players verändert hat. Dieses Ritual vor dem Anhören war ein wichtiger Teil des Hörerlebnisses – dabei habe ich die bei Fanatikern zwingend vorgeschrieben Handgriffe für das sog. Nassabspielen noch gar nicht erwähnt. Eine CD musste man immerhin noch aus der Hülle nehmen und in den Schacht legen, aber die komplette Entritualisierung bzw. Virtualisierung i.S. von Entkoppelung von einer materiellen Basis hat uns dann der MP3 Player beschert, der es möglich macht, mit gefühlten 50% der Popmusikgeschichte am Hals baumelnd durch den Park zu joggen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln die Mitfahrer mit den isolierten Zischlauten des Schlazeugs zu nerven. Warum können diese Idioten nicht mal zur Abwechlung gregorianische Gesänge anhören?
Langer Rede kurzer Sinn: Eine LP war immer ein Gesamtkunstwerk aus Musik und passender Hülle. Wer in meiner Gymnasiumzeit als cool gelten wollte, lief mit einer Miles Davis LP unter den Arm geklemmt durch die Gegend. Ich bin absolut sicher, dass die Wertschätzung für betimmte Musikstücke oder Alben durch die beschriebene Virtualisierung abgenommen hat. Mein erstes Jazzalbum – ein für damalige Verhältnisse völlig ungewöhnliches Exemplar eines Samplers – konnte ich nach einem Monat auswendig, und da waren ein paar echte Klassiker dabei, u.a. „Relaxin‘ at Camarillo“ von Charlie Parker mit dem genialen Klavierintro von Dodo Marmarosa oder „Dark Eyes“ von Art Tatum mit Slam Stewart am Bass, berüchtigt für seine verrückten mit Bogen gespielten und vokal unisonso begleiteten Soli – ich höre diese Musik beim Schreiben dieses Textes innerlich gerade mit grossem Genuss mit.
Nennt mich einen Nostalgiker, aber ich möchte diese Art der musikalischen Initiation nicht missen. Ich frage mich, was mein Sohn, bei dem diese wichtige Phase voll ins Technozeitalter fiel, sich in zwanzig Jahren bei einem Glas Rotwein anhören wird, wenn er von einer nostalgischen Anwandlung befallen wird.
Und wo wir gerade beim Thema sind: Die LP hat ja in Kombination mit einer aus heutiger Sicht grotesk anmutenden Plattenspielertechnologie (der Direktantrieb war einer ihrer Fetische, und so ein Highend-Gerät konnte schon mal 20 000 DM kosten) eine erstaunliche Klangtreue erzeugt, wenn man sich überlegt, dass da nur eine in Kunststoff geritzte Rille von einer Nadel abgetastet wurde! Analog eben!
Trotzdem war der Sound nie wichtiger als der Inhalt. Ich habe Jazz Mitte der 50er Jahre in einem Berner Oberländer Bauerndorf für mich ganz allein entdeckt, weil ich den amerikanishen Soldatensender AFN auf Kurzwelle auf einem Radio empfangen konnte, das noch mit einem grün schimmernden magischen Auge ausgestattet war (jetzt komme ich mir wirklich langsam wie ein sabbernder Opa vor) – was heisst empfangen, zwischen relativ lauten Brumm- Zisch und Statikgeräuschen war ab und zu der Fetzen eines Saxofonsolos zu hören, aber es hat ausgereicht, um mich für den Rest meines Lebens jazzsüchtig zu machen!!! Und so ähnlich erging es sicher vielen. Es war eine Lektion in „Quality will out“ = „Qualität setzt sich durch“. Das war eine Zeit, als die Begriffe „Marketing“, „Synergieeffekte“ und „Reichweitenanalysen“ noch nicht existierten, i.a.W. die gute alte Zeit – als Frauen noch keine Doppelnamen hatten und Äpfel keine aufkleber, die man nicht mehr vom Finger runter kriegt, die sind schlimmer als ein Popel (das war jetzt etwas zusammenhanglos, aber was solls).
Wenn ich heute im Musicshop junge Leute über Musik und Homerecording reden höre, denke ich manchmal, dass ich im falschen Film bin. Da geht es primär um Festplattenkapazitäten, um eine weitere 100 000 Samples umfassende Klangbibliothek speichern zu können. Man kann inzwischen auf einem Notebook das Vienna Symphony Orchestra abrufen, und beim Klaviersampleprogramm „Ivory“ zwischen Steinway, Bösendorfer und Yamaha wählen, mit Optionen für jeweils 10 verschiedene Raumgrössen. Das klingt alles ziemlich gut, keine Frage, aber im Vergleich zum Obertonspektrum eines echten Flügels doch nur wie Corned Beef aus der Dose (sorry, Vergleiche waren noch nie meine Stärke). Der Ideale Flügel wäre übrigens ein Bösenway bzw. ein Steindorfer: im oberen Bereich Bösendorfer, im Tieftonbereich Steinway).
Ich nutze die Möglichkeiten der neuen Technologien übrigens auch, ich hatte das Glück, gleich bei meiner ersten Einspielung einer Eigenkomposition mit wunderbaren Musikern zusammenarbeiten zu dürfen, allerdings nur via Internet, der Gitarrist Martin Scales wohnt in Frankfurt, den Schlagzeuger Christian Lettner kenne ich nicht mal persönlich. Das Ergebnis kann auf meiner Homepage www.christian-ueberschall.ch angehört werden. Für den ersten Versuch eines computerunaffinen Berners (ich bin und bleibe ein analoger Typ) klingt es jedenfalls nicht direkt übel (es gibt in Bern vier Stufen der Anerkennung: nicht direkt übel – nicht übel – überhaupt nicht übel und als absoluter Superlativ: das ist nicht unoptimal!
Fazit: Gute Musiker (von begnadeten ganz abgesehen) können auch Computer kreativ einsetzen, keine Frage, aber wenn ich Aufwand und Ergebnis der ganzen Elektroniktüfteleien betrachte, scheint mit das Ergebnis in den meisten Fällen ziemlich kläglich und klingt oft nach erstaunlich kurzer Zeit komplett veraltet. Im Vergleich dazu: Viele wenn nicht sogar die meisten Blue Note Alben der 60er Jahre wurden in einer Session aufgenommen, und sie klingen heute noch genau so frisch wie damals. Summa Summarium (ich weiss, da ist ein „i“ zuviel, aber es klingt so witziger): Computer haben die Musik nicht wirklich weiter gebracht, als Hilfsmittel für Pseudokreative und gigantische Zeitverschwendungsmaschinerie haben sie sich allerdings hervorragend bewährt – man kann sich mit ihrer Hilfe ziemlich lange über die mangelnde eigene Kreativität hinwegtäuschen. Die kreativsten Akteure in der Soundbranche sind die armen Schweine, die sich bei „Omnisphere“ (sehr Aufwendige Soundbibliothek) für jeden der Abertausend Sounds einen eigenen Namen einfallen lassen müssen!
PS: Die reaktivierte LP war übrigens „Concert by the Sea“, eine Sternstunde des Jazz, wenn nicht sogar der abendländischen Musik – und das meine ich wirklich -, die ich jedem Leser dieser Kolumne ans Herz legen möchte (gibt’s übrigens auch als CD oder bei iTunes).
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